Welches Bild haben Sie im Kopf, wenn ich Ihnen sage, dass ich Autist bin? Vielleicht denken Sie an den Rain Man, gespielt von Dustin Hofmann im gleichnamigen Film. Hofmann spielt einen hochintelligenten Mann, der aber von der sozialen Aussenwelt ziemlich isoliert wirkt. Das würde doch passen. Der Begriff «Autismus» stammt aus dem Griechischen. Er meint so viel wie «auf sich bezogen sein».
Um es gleich vorwegzunehmen, ich bin kein Rain Man. Weder bin ich sonderlich genial, noch führe ich ein isoliertes Dasein. Und sehr auf mich bezogen bin ich irgendwie auch nicht. Ich arbeite als Pfarrer in der reformierten Landeskirche. Ein ziemlich sozialer Beruf.
Auch sonst bin ich kein Paradebeispiel eines Autisten. Das liegt vor allem daran, dass es so ein Paradebeispiel nicht gibt. Unter dem Fachbegriff Autismus Spektrum-Störung (ASS) sammelt sich eine kunterbunte Vielfalt von Menschen. Manche von uns brauchen ein Leben lang Betreuung, andere kommen allein zurecht. Die Frage, ob Autismus eine Behinderung ist oder nicht, wird darum nicht jeder gleich beantworten.
So richtig ansehen kann man Autismus jemandem jedenfalls nicht. In vielen Fällen ist er unsichtbar. Etwa weil schwerbehinderte Autisten oft nur am Rand der Gesellschaft Platz finden. Sie kommen nicht vor. Und was nicht vorkommt, gerät aus dem Blick. Andere von uns sind über die Jahre darauf konditioniert, sich bis zur Unkenntlichkeit anzupassen.
Viele wissen nicht einmal, dass sie Autisten sind und bleiben sich selbst über viele Jahre unsichtbar. Mir ging es so. Erst mit 38 Jahren habe ich meine Diagnose erhalten und gelernt: Mein Hirn funktioniert anders. Vieles, womit ich bis dahin ein Leben lang gekämpft habe, machte auf einmal Sinn. Die Diagnose war eine Erlösung.
In meinem Gutachten heisst es, ich sei Asperger-Autist. Manche benutzen diese Bezeichnung und das ist in Ordnung. Ich selbst verwende sie nicht so gern. Asperger ist der Name eines Arztes, der in Nazi-Deutschland am Euthanasieprogramm beteiligt war – insbesondere an der Tötung «lebensunwerter» Kinder. Andere sagen statt Asperger deshalb auch einfach «hochfunktionaler Autismus». Damit ist gemeint, dass ich als Kind keine sprachlichen Verzögerungen hatte und mich «normal» entwickelt habe. Aber eigentlich meint das nur, dass ich nicht weiter auffalle – zumindest von aussen betrachtet.
Was uns Autisten verbindet, sind Schwierigkeiten bei der Sinneswahrnehmung. Während das Hirn nicht-autistischer Menschen äussere Reize automatisch nach Relevanz filtert und aussortiert, erleben Autisten die Eindrücke oft pur. Damit werden all die Situationen zu einer Herausforderung, in denen es viel zu sehen, hören, riechen und fühlen gibt.
Gerade soziale Situationen werden so zur Herausforderung. Das alte Vorurteil, dass Autisten nur auf sich selbst bezogen seien, hat hier seinen Ursprung. Schon früh erklärten Ärzte die gestörte zwischenmenschliche Interaktion damit, dass Autisten soziale Fähigkeiten wie etwa Empathie fehlen. Sie können sich, so das Urteil, nicht in andere Menschen hineinversetzen.
Neuere Forschungen vermuten des Rätsels Lösung eher in der anderen Richtung. Nicht, dass wir zu wenig fühlen, macht soziale Situationen schwierig, sondern, dass wir zu viel fühlen. Stellen Sie sich das autistische Gehirn wie ein Computer vor, bei dem ständig alle Programme parallel laufen. Da ist es kein Wunder, wenn der Rechner gelegentlich abstürzt.
Nicht zuletzt, weil die Welt so ungefiltert auf uns einstürmt, benötigen wir Autisten oft wesentlich mehr Ruhezeiten, um neue Eindrücke zu verarbeiten. Viele von uns mögen ausserdem Ordnungen, Rituale und Wiederholungen. Das gibt Sicherheit. Gewisse Tics, Laute und Bewegungen helfen uns, wieder bei uns anzukommen.
Noch heute wird teilweise versucht, dieses Stimming abzutrainieren, weil es als sozialunverträglich angesehen wird. Tatsächlich ist es nur die autistische Art, Erlebtes zu verarbeiten und Gefühle zu zeigen. Stimming ist ein wichtiges Ventil zur Selbstregulierung. Es kann durchaus vorkommen, dass ich bei Stress singe, komische Laute von mir gebe oder mich seltsam bewege. Das hilft mir, mich zu erden.
Mein autistisches Selbst vor anderen zuzulassen, einfach ich sein, das muss ich trotzdem erst noch lernen. Zu lange habe ich versucht, mein Verhalten und Sein mit aller Kraft zu kontrollieren. Masking nennt sich das, wenn Autisten gegen aussen hin ihre Schwierigkeiten kaschieren und ihre Bedürfnisse unterdrücken. Eine Strategie, die unweigerlich Probleme mit sich bringt: Depressionen, Sucht und Suizide sind keine Seltenheit. Masking mag sich am Anfang wie die einzig mögliche Überlebensstrategie anfühlen, auf Dauer wird es zum Gefängnis. So jedenfalls habe ich das erlebt.
Blicke ich auf mein bisheriges Leben zurück, ist mir die Welt eigentlich nie anders begegnet als unglaublich laut und unheimlich roh. Den anderen schien das nichts auszumachen. Im Gegenteil. Sie schlossen wie von selbst Freundschaften und freuten sich sogar darüber, wenn viel los war. Mir fiel das schwer. Aber ich wollte dazugehören. Also wurde ich mehr und mehr zu jemand anderem. Jemanden, den man mögen kann und der dazugehört – humorvoll, offen und selbstbewusst. Mit Paulus könnte man sagen, «ich wurde den Griechen zum Griechen und den Juden zum Juden» (vgl. 1. Kor 9,20ff.).
Was beim Apostel noch ziemlich heroisch klingt, hat eine gravierende Kehrseite: Ich habe mich so sehr angepasst, dass kaum noch etwas von mir übrigblieb. Während ich gegen aussen souverän auftrat, wurde ich in Wahrheit vollkommen unsichtbar.
Um die Fassade aufrecht zu erhalten, habe ich mir allerlei Strategien zurechtgelegt. Stehen zum Beispiel Anlässe bevor, recherchiere ich im Voraus alle möglichen Faktoren: Personen, Inhalte, Orte, Abläufe. Für den Small-Talk lege ich mir Themen zurecht. Meine Vorbereitungen kaschieren meine Unsicherheiten. Ich bin vielleicht zurückhaltender, aber meine Panik bleibt in mir verschlossen. Ich kann innerlich schreien und ausrasten und alles, was Sie sehen, ist, wie ich still auf meinem Stuhl sitze. Darum sagen wohl viele: «Du, Autist? Nein.» Sie sehen nicht, welche Rechenleistung unaufhörlich im Hintergrund läuft.
Mithilfe der intensiven Vorbereitung und Anpassung gelingt es mir, manchen Anlass gut zu überstehen. Aber auf lange Sicht ist das ein teuer erkaufter Sieg. Langfristig tun wir Autisten uns damit keinen Gefallen. Im Gegenteil: Wir unterdrücken uns selbst, damit andere sich wohler fühlen. Wir hassen uns, weil wir wieder nicht hineingepasst haben. Und die anderen merken nichts von diesem Kampf. Das geht so lange gut, bis es eben nicht mehr gut geht. Die Menschen um uns sehen nicht die Zwänge und Tränen, die Panik, Ohnmacht und Überforderung. Sie sehen das erst, wenn alle Dämme brechen.
Ich habe das grosse Glück, in einem Beruf zu arbeiten, in dem ich mich zu grossen Teilen selbst organisieren kann. Als Pfarrer kann ich meinen Tagesablauf selbst strukturieren und Pausen einbauen. Anlässe, die ich selber verantworte, kann ich passgenau vorbereiten. Und wenn ich die Menschen in meiner Gemeinde kenne und sie mich, fällt vieles vom Stress bei unbekannten Faktoren weg. So kann ich mich auch auf und an Anlässen freuen und sehen lassen.
Aber ich weiss, dass nicht alle so ein Glück haben. Autisten arbeiten in Berufen, in denen sie ihren Tag nicht selbst strukturieren können und vielen Sinnesreizen ausgesetzt sind – in lauten Läden, Werkstätten oder hektischen Grossraumbüros. Viele Autisten sind arbeitslos und leben in Armut.
Man kann das beklagen. Es ist beklagenswert. Es macht mich wütend, dass die Welt für Autisten ein dermassen unwirtlicher Ort ist, dass das Leben sinnlos erscheint. Ich bin sehr oft sehr wütend. Anklagen möchte ich trotzdem niemanden. Viel lieber möchte ich fragen, was zu ändern, zu verbessern wäre. Am Ende des Tages verlangt mein autistisches Hirn nicht nach Klageliedern, sondern nach guten Nachrichten – nach neuen Wegen.
Dabei ist eines für mich klar geworden: Ich will mich nicht mehr verstecken. Ich will mich nicht mehr ständig anpassen. Denn eine Gesellschaft, die nichts weiss von unsichtbaren Schwierigkeiten, kann auch nicht lernen, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen. Sie wird die Notwendigkeit von Veränderungen nicht «ein-sehen».
«Du bist ein Gott, der mich sieht», lautet die Losung dieses Jahres. Wir Christen glauben, dass Gott uns durch alle Äusserlichkeiten und in allem Elend, durch alle sozialen Maskeraden und inmitten der Regelwerke des Miteinanders sehen kann. Gott sieht uns jenseits all der mehr oder weniger freiwillig aufgetragenen Schichten. Ihm trauen wir zu, dass er uns so trägt, erträgt und liebt, wie wir sind. Warum trauen wir das dann nicht auch den Menschen zu?
Wenn es in der Bibel heisst, dass Gott mich sieht, dann stelle ich mir gerne vor, dass es nicht beim Sehen bleibt. Gott erkennt mich durch und durch. Er kann mich nicht nur sehen, sondern auch hören, spüren, riechen, schmecken und vieles mehr. Er nimmt mich mit allen Sinnen wahr. Auch dann, wenn andere das nicht können. Auch dann, wenn mein Stimming und meine Zwänge für anderen Menschen keinen Sinn machen. Gerade dann. Ich glaube, Gott schert sich nicht um sozialverträgliches Verhalten. Gott schert sich um Menschen.
Und genauso wie Gott mich mit allen Sinnen wahrnimmt, kann er auch mit allen Sinnen zu mir sprechen. Gott kennt alle Sprachen – die gesprochenen, die körperlichen, die stillen. Es gibt nicht die eine richtige Sprache. Aber es gibt Sprachen der Liebe überall dort, wo wir wirklich hinsehen, hinhören und hinspüren. Dort, wo wir die anderen die anderen sein lassen. Würdigen können wir einander erst, wenn wir bereit sind, im Anderen nicht nur das zu sehen, was wir sehen wollen. Dazu gehört der Mut, sich «ent-täuschen» zu lassen, die fertigen Bilder im Kopf aufzugeben. Dazu gehört auch der Mut, sich sehen zu lassen.