Ein Vater macht sich Gedanken

Januar 2009, Ruedi Richner, Seuzach

Im Januar 2009

Ich schaue auf die vergangenen fünfzehn Jahre mit unserer behinderten Tochter Lynn zurück und sehe Splitter in unterschiedlichsten Farben und Formen.

Aktuell steht meine Tochter an der Schwelle ins Erwachsenenleben. Jeden Montag sieht das zum Beispiel so aus:

Wir fahren gemeinsam zum Rollstuhl-Training nach Affoltern. Das Angebot umfasst Ballspiele, Rollstuhlhandling, Unihockey, Badminton, Konditionstraining usw. Ich chauffiere meine Tochter aus verschiedenen Gründen:  Hauptsächlich entlaste ich damit meine Frau, die die ganze Koordination und Organisation von Lynn’s Terminen trägt. Die Handicaps unserer Tochter bringen die verschiedensten Verpflichtun- gen, die sich manchmal plötzlich häufen. Da meine Frau Teilzeit arbeitet, will ich sie unterstützen.

Wir geniessen sogar den Stau auf der Autobahn und den zusätzlichen Raum für Gespräche, der sich dadurch ergibt.

Ein zweiter Grund, weshalb ich die lange Fahrt mit Lynn mache, ist die Zeit, die wir dadurch miteinander verbringen können. Wir geniessen sogar den Stau auf der Autobahn und den zusätzlichen Raum für Gespräche, der sich dadurch ergibt. Wir tauschen Neuigkeiten aus auf dem Weg und erzählen uns, was uns gerade bewegt. Momentan ist für Lynn die anstehende Berufswahl Thema Nummer eins. Oft diskutieren wir auch über Glaubensfragen und wie wir unseren Glauben im Alltag leben können.

Manchmal sitzen wir auch nur schweigend im Auto und es ist einfach schön, zusammen zu sein. Ich, ein ganz normaler Vater mit seiner Teenager-Tochter.

Sind wir dann in Affoltern, freut sich Lynn auf zwei Stunden Sport und auf das Zusammensein  mit anderen Behinderten. Sie braucht den Rollstuhl nur für längere Strecken, ansonsten ist sie Fußgängerin. Sie lernt an den Montagabenden mit dem Rollstuhl umzugehen, lernt Rücksicht zu nehmen auf Schwächere und vor allem sieht sie, dass sie nicht alleine ist mit ihrer Behinderung. Ihre Sozialkompetenz kann sich entwickeln und sie knüpft Kontakte.
Während diesen zwei Stunden habe ich Zeit für mich. In der warmen Jahreszeit drehe ich oft in der Abendsonne  eine grosse Runde mit meinen Walking-Stöcken. Manchmal setze ich mich mit einem Latte Macchiato und einer Zeitung in ein Restaurant und genieße mein kleines Montags-Timeout. Es kommt auch vor, dass ich mich mit anderen Eltern austausche. Das tut gut. Ich bekomme Tipps und kann auch selbst welche weitergeben.

Diese Montagabende sind Bilder voller Splitter mit Lynn im Mittelpunkt.

Oktober 2015

Nach drei Jahren Ausbildung bei der Stiftung Rossfeld in Bern, hat unsere Tochter Lynn im Sommer 2015 die Ausbildung zur Büroassistentin EBA erfolgreich abgeschlossen. Für Lynn waren es drei intensive Jahre. Neben den beruflichen und persönlichen Herausforderungen und dem Auszug von zu Hause, musste sie auch zwei Todesfälle  von geliebten Menschen verarbeiten.  Das waren einschneidende Ereignisse. Ihr Glaube an Jesus Christus hat sie durch diese Zeit hindurchgetragen und sie fand dort auch immer Trost, Kraft und Hoffnung.

Zurzeit sind wir gemeinsam auf Jobsuche. Kein einfaches Unterfangen. Im ersten Arbeitsmarkt wartet niemand auf Lynn…und doch suchen wir eine passende Tätigkeit für sie, die ihr Freude und Befriedigung verschafft. Wir sind zuversichtlich und glauben daran, dass sich ein Arbeitgeber findet, der Lynn eine Chance gibt und sie im Betrieb so einsetzt, wie sie ist: eine junge, aufgestellte und fröhliche Frau mit einem Abschluss!

Aktuell wird unsere Tochter zusätzlich durch die Institution mitschaffe.ch an potentielle Arbeitgeber im ersten Arbeitsmarkt vermittelt. mitschaffe.ch ist eine Personalverleihfirma für Menschen mit einer geistigen und/oder körperlichen Behinderung und ist im Raume Schaffhausen tätig. Wir sind optimistisch, dass Lynn mit dieser zusätzliche Unterstützung einen passenden Job bekommt.

Als Vater agiere ich momentan als Job-Coach von Lynn. All das was ich vor Jahren als Arbeitsagoge gelernt habe, kann ich heute für unsere Tochter anwenden. Jetzt, wo es ernst gilt, macht mir diese Herausforderung auch Freude. Ich fungiere als Bindeglied zwischen Arbeitsvermittlung und der IV – und coache sie persönlich in diesem Bereich, wo immer nötig.

Lynn soll stark und selbständig werden auf dem Weg ins Berufsleben, das ist mein Ziel.

In den letzten Jahren hat sich unsere Beziehung verändert. Lynn ist erwachsen geworden, wird selbständiger und braucht mich immer weniger. Ich muss lernen, sie loszulassen und ihr immer mehr Freiheiten geben ….das gelingt mir noch nicht immer, aber wir sind auf einem guten Weg.

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