Als Mensch ernst genommen werden

Oktober 2022, Flavia Ubaka im Gespräch mit Berta Brunner

Liebe Berta, Du warst ja schon öfters mit GuB in den Ferien. Trotzdem kennen Dich nicht alle. Kannst Du Dich bitte kurz vorstellen?

Ich bin 74 Jahre alt und lebe in der Stiftung Steinegg in Wiesendangen.  Aufgewachsen bin ich in Ebnat-Kappel im Toggenburg. Mein Vater war Landwirt und mit dem Bauernhof und uns neun Kindern hatten meine Eltern alle Hände voll zu tun. Deshalb war ich sehr oft auf mich allein gestellt. Ich bin von Geburt an behindert. Man wusste jedoch nicht genau, was ich hatte. Erst mit acht Jahren bekam ich die Diagnose CP (Cerebralparese). Bis zu diesem Zeitpunkt wurde ich überhaupt nicht gefördert, konnte weder gehen noch sprechen. Erst mit zehn Jahren kam ich in eine Sonderschule und lernte dort gehen und sprechen. Nach der Schule wurde ich von verschiedenen Privatpersonen in Winterthur betreut, denn damals gab es noch keine Einrichtungen für behinderte Menschen. Danach kam ich in die Stiftung Steinegg, wo ich nun seit 51 Jahren lebe. Früher arbeitete ich in der Werkstatt der Stiftung, heute bin ich pensioniert. Ich sticke gerne in meiner Freizeit und konnte meine Kunstwerke schon öfters verkaufen. Meine finanziellen Angelegenheiten erledige ich alle selbst, auch die Steuererklärung, so kann ich mir eine gewisse Autonomie aufrecht erhalten. Seit 30 Jahren besitze ich einen Elektrorollstuhl, der mir auch viel Selbständigkeit ermöglicht.

Wie fandest Du zum Glauben und was bedeutet er Dir?

Von meinem Elternhaus her kannte ich zwar gewisse Glaubensgrundlagen, aber erst in der Sonderschule hörte ich, dass eine Entscheidung für Jesus Christus nötig und eine persönliche Beziehung zu ihm möglich ist. Später ermutigte mich eine Betreuerin der Steinegg an einem Glaubenskurs teilzunehmen, da sie bemerkte, dass ich in der Bibel las. Der Glaube gibt mir Kraft, Hoffnung, Trost und Zuversicht. Ich bin von Gott geliebt und angenommen wie ich bin, er sieht mein Herz, nicht meinen unvollkommenen Körper. Es tut mir gut, dass ich bei ihm alle meine Sorgen und Nöte abladen kann. Zudem freue ich mich auf die Ewigkeit beim Herrn, wo keine Tränen und kein Leid mehr sein werden. Ich werde einen vollkommenen Körper haben und es wird nur Freude und Herrlichkeit sein.

Gab es Situationen in deinem Leben, wo Du deinen Mut unter Beweis stellen musstest?

Eigentlich fast immer und überall. Bei meiner beschwerlichen Sprache braucht es immer Mut, mich zu Wort zu melden und ich weiss nie, wie mein Gegenüber reagiert. Viele meinen, ich sei nicht nur körperlich, sondern auch geistig behindert, auch wenn jemand neu in der Betreuung ist. Auch von den Behörden oder sonst von der Gesellschaft fühle ich mich oft nicht ernst genommen.

Es gab auch früher oft schwierige Situationen im Wohnheim, wo ich am liebsten weggezogen wäre. Aber es gab keine andere Wohnmöglichkeit für mich. So musste ich einfach durchbeissen und das Beste aus der Situation machen.

Was macht Dir am meisten Mühe im Leben?

Dass fast alle Bewohner im Wohnheim geistig behindert sind, und ich deshalb selten ebenbürtige Gesprächspartner habe. Deshalb fühle ich mich oft einsam. Es sollte mehr Wohnheime geben mit vorwiegend körperbehinderten Menschen. Von der Gesellschaft fühle ich mich oft nicht ernst genommen. Viele Menschen bemitleiden mich einfach nur, was ich natürlich überhaupt nicht brauche.

Liebe Berta, herzlichen Dank für Deine Offenheit und die Einblicke in Dein Leben.

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