Datum: 29. Mai 2024, 9:30
Ort: Aarau, Momentum Church
Inklusion stärkt die Gemeinschaft
Die Fachtagungen von Glaube und Behinderung haben eine lange Tradition. Mit der Tagung 2024 haben wir bewusst ein paar Änderungen vorgenommen. Einerseits haben wir mit dem Thema Inklusion ein eher theologisches und gesellschaftlich relevantes Thema ausgesucht, das bisher in kirchlichen Kreisen noch zu wenig im Fokus war. Damit verbunden hat sich das Zielpublikum der Tagung hin zu Mitarbeitenden und Verantwortlichen in Kirchen und Werken verschoben.
Mit dem Institut Inklusiv von Dr. Oliver Merz haben wir den passenden Partner für diese Fachtagung gefunden. Wir sind hoch erfreut, dass es uns gelungen ist, rund 130 Personen aus Landes- und Freikirchen zusammenzubringen, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie es um die Inklusion von Menschen mit Behinderung in den Schweizer Kirchen steht. Es gab viele neuen Begegnungen, aus denen hoffentlich in den kommenden Jahren viel Gutes entstehen wird.
Die Tagung wurde eröffnet mit ein paar einleitenden Gedanken von Viviane Krucker-Baud, der Co-Generalsekretärin der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA). Sie betonte mit Bezug auf das Bild des Leibes und seinen Glieder nach Römer 12,4 die Wichtigkeit, dass auch Menschen mit Behinderung in ihrer Kirche dazugehören und Teil der Gemeinschaft sein müssen.
Im ersten Hauptreferat präsentierte Prof. Dr. theol. Ralph Kunz eine inklusive Übersetzung des Evangeliums. Mit verschiedenen biblischen Bezügen zeigt er auf, dass Inklusion « … nichts wahnsinnig Grosses und exorbitant Ausserordentliches ist, nichts Unvernünftiges oder schaurig Teures – es ist das Naheliegende!» Da ist zum Beispiel das Gebot aus Johannes 15,12, in dem uns Jesus auffordert, « … dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe». Gemeint sei aber nicht die Liebe als klebriger, dicken religiös-moralischen Sirup, den man grosszügig über alles giesst. Gemeint ist die Liebe, welche Inklusion zu einer Bewegung der Freude und der Freundschaft werden lässt. Nicht zuletzt gehe es um die Nächstenliebe, die sich darin ausdrückt, Rücksicht auf den Andern zu nehmen. Und um miteinander Gemeinschaft zu haben, müssen wir bereit sein, andere hereinzulassen und auf andere zuzugehen.
Leider sähen wir zu oft, dass Verantwortliche in Politik und Kirche beim Wort Inklusion reflexartig denken: «Das auch noch! Wir können es uns nicht leisten. Ausgeschlossen». Sie denken an Rampen, Lifte, WC-Umbau, Hörhilfen und nicht an Menschen, die dazugehören wollen. Sie denken an die Kosten und nicht an das kostbarste Gut der Gemeinde. Sie sehen die Rechnungen und rechnen nicht mit dem Gewinn. Denn der Gewinn der inklusiven Investition ist die Stärke der Gemeinschaft.
Vortrag von Prof. Dr. Ralph Kunz
Im zweiten Hauptreferat zeigte Simone Leuenberger, Gymnasiallehrerin und Grossrätin im Kanton Bern, einerseits auf, wie es um die Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft steht. Sie sagt, dass das Behindertengleichstellungsgesetz und auch die von der Schweiz von 10 Jahren mitunterzeichnete Behindertenrechtskonvention der UNO zu wenig Wirkung erzeugen. Aus diesem Grund wurde die Inklusionsinitiative gestartet. Sie schlägt auch einen Bogen zur Situation von Menschen mit Behinderung in der Kirche. Wenn wir die Bibel aufmerksam lesen, dann finden wir einige Personen, die mit einer Behinderung gelebt haben. Da war Mose mit seiner Sprachbehinderung, der von seinem Bruder Aaron assistiert wurde. Oder Jakob, der seit dem Kampf mit dem Engel des Herrn eine kaputte Hüfte hatte. Und nicht zuletzt Paulus mit seinen chronischen Schmerzen. Sie alle wurden von Gott «trotzdem» mit grossen Aufgaben betraut.
Doch wie sieht es in unseren Kirchen aus? Wie kommen Menschen mit Behinderung in Kontakt mit dem Glauben? Ist «Behinderung» Thema in unseren Gottesdiensten? Und wenn ja: in welcher Form? Wie können Menschen mit Behinderung in unseren Kirchen ihre Berufung finden und leben? Der Aufruf von Simone Leuenberger an die Teilnehmenden und die Kirchen der Schweiz: «Machen wir uns gemeinsam auf den Weg zurück zur inklusiven Kirche, wie Gott sie gedacht hat, zu einer Kirche, die niemanden ausschliesst, die das Potential von allen Menschen zu schätzen und zu nutzen weiss, wo Behinderung keine Rolle spielt, sondern dazugehört.»
Vortrag von Simone Leuenberger
Vor und nach dem Mittagessen konnten sich die Teilnehmenden in 12 verschiedenen Vertiefungsseminaren zweimal einem spezifischen Thema widmen. Dabei ging es zum Beispiel um Autismus, inklusive Didaktik sowie Unterrichtsmaterialien für die Kinder- und Jugendarbeit, um eine schematherapeutische Perspektive, inklusive Sozialarbeit oder ganz einfach um den Weg zu einer inklusiven Kirche.
Während des ganzen Tages war der Künstler Mark Fels auf der grossen Bühne in der Momentum Church am Wirken. Vor den Augen der Teilnehmenden entstand ein sogenanntes Triptychon, ein dreiteiliges Bild auf drei separaten Leinwänden. Der Künstler verband das Tagungsthema mit den drei Begriffen «Glaube, Liebe und Hoffnung». Die Bilder befinden sich zur Zeit noch im Finish und können danach – alle drei zusammen – käuflich erworben werden.
Am Nachmittag stand dann noch die Uraufführung des Films «Zmitztdrin» auf dem Programm. Die Projektidee entstand vor rund vier Jahren zu Beginn der Coronapandemie. Die Idee war, mit einem Lehrmittel sowie einem Film Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene in den Kirchen für das Thema Inklusion zu sensibilisieren. Im Film kommen 15 Menschen mit und ohne Behinderung zu Wort. Sie bringen aus ihrer persönlichen Perspektive ein, wie Inklusion gelingt bzw. gelingen könnte und machen das Thema dadurch greif- und erlebbar. Der Film steht kostenlos zur Verfügung und ist auch in einer Fassung mit Audiodeskription erhältlich. Hier geht’s zum Film.
In einem abschliessenden Podiumsgespräch ging es darum, eine Essenz aus dem Tag und eine Perspektive für die Zukunft zu gewinnen. Die Teilnehmenden auf dem Podium waren sich einig, dann wir heute nicht einen Sack zubinden können, sondern dass wir mit dieser Fachtagung eher einen Sack geöffnet haben. Wir sind gespannt und freuen uns auf die Bewegung, die aufgrund dieser Fachtagung entstehen wird.