Datum: 29. August 2020, 9:15
Ort: Bern, EGW Bern-Zentrum, Nägeligasse 9, 3011 Bern
«Dennoch bleibe ich stets an dir …»
Eine Woche nach dem Begegnungstag in Männedorf findet erstmals auch ein solches «Familientreffen» in Bern statt. Die Idee, einen solchen Tag in der Hauptstadt anzubieten, ist während des Corona-Lockdowns entstanden. Nachdem wir die Mitgliederversammlung, den Familientag und sogar die Israelreise absagen mussten, wollten wir unbedingt eine andere Möglichkeit anbieten, sich mit Freunden von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Auch wenn die Liste der Teilnehmenden schlussendlich nicht so lang ist: Wer sich in den Räumen des EGW Bern einfindet, darf sich auf ein Programm für alle Sinne und vor allem mit Tiefgang freuen.
Als Referentenpaar haben wir Astrid und Andreas Hahn eingeladen. Die beiden haben vier erwachsene Kinder, eine Tochter lebt noch mit ihnen in Hochdorf. Andreas arbeitet als Pastor in der örtlichen FEG und Astrid engagiert sich für die Integration von Flüchtlingen als Deutschlehrerin und Begleitperson für Familien.
Wir haben Andreas und Astrid im Juli 2019 in der Ferienwoche in Interlaken kennengelernt, bei ihrer ersten Teilnahme an einem Angebot von Glaube und Behinderung. Vorher hatten sie auch noch keinen Grund, sich für solche Ferien zu interessieren. Doch da sind wir schon mitten in ihrer Geschichte gelandet …
Sturz in ein neues Leben
Es ist Sommer im Jahr 2017. Velofahren ist das grösste Hobby von Andreas. So hat er sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, alle Alpenpässe in der Schweiz mit dem Fahrrad zu bewältigen. Nur ein Pass fehlt ihm noch in seiner Sammlung. Zuerst steht aber noch eine Biker-Freizeit mit seinem Sohn in Österreich auf dem Programm. An einem Tag – es war der 27. Juni 2017 – unternimmt Andreas alleine eine Tour, notabene mit einem fremden Bike. Bei einer Abfahrt kommt es zum fatalen Sturz. Andreas überschlägt sich mit dem Bike und bleibt mit Schmerzen am Boden liegen. Als er kein Gefühl mehr in den Beinen spürt, kann er die Diagnose bereits erahnen. Seit diesem Tag ist Andreas ab Brusthöhe querschnittgelähmt.
In der Verarbeitung des Schocks hat Astrid schon bald den Eindruck, dass sie beide jetzt noch mehr bzw. erst recht aufeinander angewiesen sein werden. «Meine schnellen Beine und meine Umsetzungsstärke werden Andreas Stärke als Denker ergänzen». Diesen Eindruck bestätigt Andreas mit seiner Aussage am Spitalbett: «Dich zu spüren empfinde ich eher als mein Fleisch, als meine eigenen Beine, die ich nicht mehr spüren kann.»
Wie können wir das Schwere einordnen und damit umgehen?
Unvermittelt kreisen brennende Fragen im Kopf von Andreas. Warum ist das passiert? Was hat sich Gott dabei gedacht? Was will er mit einem anfangen, der nur noch aus Kopf und Armen besteht? Die folgenden vier Punkte können uns helfen, Schweres einzuordnen und einigermassen bzw. irgendwann damit umzugehen:
- Klagen ist bei Gott möglich und erwünscht. Neben der Geschichte von Hiob, der Gott auch seinen Frust und seine Wut geklagt hat, gibt es in der Bibel insgesamt 65 Klagepsalmen. Und einige dieser Psalmen (39, 44, 88) enden nicht einmal mit einem abschliessenden Lob auf Gott.
- Hüten wir uns vor sogenannt «flachen Antworten». Damit sind Antworten gemeint, die auch Hiob von seinen Freunden hören musste: Der Gerechte wird belohnt und deshalb muss er nicht leiden – leidest du, so bring dein Leben in Ordnung (vgl. Hiob 4,6-8 u.a.). Gnade bedeutet jedoch – unter anderem: Wir können unsere noch so tollen Leistungen für Gott nicht «abrechnen», also als Lohn dafür ein angenehmes Leben erwarten. Gott schuldet uns nichts.
- Es geht nicht um Strafe für Sünde. In Lukas 13, 1-5 wird Jesus berichtet, dass einige Männer aus Galiläa während des Opferdienstes im Tempel von Pilatus umgebracht wurden. Jesus antwortet: «Ihr denkt jetzt vielleicht, diese Galiläer seien schlimmere Sünder gewesen als ihre Landsleute, weil sie so grausam ermordet wurden. Ihr irrt euch! …» Also stimmt der Zusammenhang Sünde à Strafe so nicht. Die Strafe hat Jesus für uns getragen. Gewiss kann Gott uns wachrütteln wollen. Aber wir können nicht schlimme Ereignisse als Strafe identifizieren.
- Gottes Liebe zu mir steht fest. Jesus hat seine Liebe zu uns gezeigt, indem er sein Leben für uns gegeben hat, als wir noch seine Gegner waren (Röm 6,10). Deshalb weiß ich: Das Schwere in meinem Leben kam nicht, weil Gott mich nicht mehr lieben würde.
- Durch Schweres will Gott mich Jesus ähnlicher machen. Röm 8,28: “Für die, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Guten zusammenwirken.” Mit dem “Guten” ist hier im Kontext gemeint, dass ich Jesus ähnlicher werde. Wenn Gott das in meinem Leben erreicht, dann will ich zufrieden sein.
Auch wenn wir auf dieser Welt nicht erfahren werden, weshalb wir Schweres und Leid zu ertragen haben, ist es wichtig, an Jesus festzuhalten. Und zwar nicht in Erwartung eines Lohnes für unser Durchhalten, sondern einfach aus Liebe zu Jesus.
Dieses Dranbleiben hat Thea Eichholz in ihrem Lied «Dennoch» zum Ausdruck gebracht. Das Lied hat sie im gleichen Jahr geschrieben, in dem ihr Mann an Krebs gestorben ist. Hier ein Ausschnitt aus dem Text:
«Mein Herz, es kommt noch nicht hinterher,
Deine Wege, sie sind zu schwer für mich –
Ich versteh dich nicht!
Dennoch bleib ich stets an dir,
Ich häng an dir,
Ich bleib’ dir treu, so wie du mir.
Mein Leben lege ich in deine Hand.»
Nach einem feinen indischen Mittagsbuffet standen Andreas und Astrid für Fragen aus dem Kreis der Teilnehmenden zur Verfügung. Das Spektrum der Fragen reichte von den Gründen, weshalb Menschen mit Beeinträchtigungen in christlichen Gemeinden eher untervertreten sind bis hin zur Frage nach Suizidgedanken. Und dann war da noch Ines, die sich schon fast entschuldigend für ein Detail interessierte: «Welchen Alpenpass hast du denn noch nicht mit dem Velo überquert?». Andreas antwortet: «Den Grossen St. Bernhard». Und man spürt, dass dies für ihn nicht eine Detailfrage ist, sondern ein grosser Wunsch, den er sich hoffentlich irgendwann noch erfüllen darf.